Kapitel 8




Seit dem Kuss und dem Abend im Wald sind zwei Wochen vergangen. Ich gehe den Jungs so gut ich kann aus dem Weg. Jeremy und Sam sehe ich immer öfter allein. Was nicht weiter verwunderlich ist, wenn man bedenkt, dass Caleb sich mit Sally trifft. Sie fehlen mir alle drei. Aber ich befürchte, wenn ich mich weiterhin mit ihnen treffe, zerstöre ich am Ende noch ihre Freundschaft. Und Caleb hat mir deutlich zu verstehen gegeben, was er von mir hält. Ich habe mich mit Tess angefreundet, einem Mädchen aus einer der Selbsthilfegruppen meiner Mutter. Ihre Schwester ist auch vor ein paar Jahren gestorben und nun versucht ihre Familie den Scherbenhaufen, den so ein Verlust verursacht, zu beseitigen.
Die Zeit versuche ich so gut ich kann damit zu verbringen, den Stoff nachzuholen um noch das beste aus meinen Noten zu machen was ich kann. Natürlich würde es mir helfen, wenn ich Hilfe hätte, aber das ist ja nicht möglich. Mein Familienleben läuft in geregelten Bahnen, so dass ich mir wenigstens keine Sorgen um diesen Bereichs meines Lebens machen muss.
Ich sitze im Park auf einer Bank und warte auf Tess. Sie wollte mir etwas zeigen. Von weitem sehe ich sie auf mich zukommen. Leicht zu übersehen ist sie nicht. Sie hat hellblaue Strähnchen in ihren blonden Haaren. Meine Mutter hat vor kurzem Bedenken geäußert, ob Tess auch wirklich der richtige Umgang für mich ist. Sie hat, wie ich, meistens schwarze Klamotten an und nun befürchtet Mum, ich könnte als Punk enden. Ich sollte mal einen richtigen Punk zum Essen einladen, vielleicht ändert sich dann ihre Meinung.
„Hey“, begrüßt mich Tess und lässt sich neben mir auf die Bank fallen.
„Hey“, antworte ich. „Und? Alles klar?“ Sie sieht nicht besonders glücklich aus.
„Nein. Meine Eltern wollen noch ein Kind.“
„Wie bitte?“, sage ich schockiert. „Das ist doch ein Scherz?! Sag mir bitte, dass das ein Scherz sein soll!“
„Nein.“ Tess holt ein Päckchen Zigaretten heraus und bietet mir eine an.
„Nein, ich rauche nicht. Und du eigentlich auch nicht.“
„Gehören meinem Alten. Hab sie ihm geklaut. Und jetzt werde ich jede einzelne genüsslich rauchen.“ Sie zündet sich eine an und muss erst einmal husten.
„Na, nach Genuss sieht das ja nicht aus.“ Sie nimmt noch einen Zug und inhaliert. Und muss wieder husten. „Jetzt mach sie schon aus!“, verlange ich von ihr. Warum hat ihr Vater überhaupt Zigaretten? Und warum fängt sie an zu rauchen? Ihre Schwester starb an Leukämie, daher habe ich keinerlei Verständnis dafür.
„Weißt du, da meine Eltern ja jetzt ein neues Kind bekommen, brauchen sie mich ja nicht mehr. Dann macht es ihnen nichts aus, wenn ich verrecke. Meinst du nicht auch?“
„Ich finde, so solltest du das nicht sehen.“
„Was?“, blafft sie mich an. „Sie bekommen noch ein Kind! Was hast du daran nicht verstanden?“
„Ich habe dich schon verstanden. Aber mit dem Rauchen anzufangen ändert doch nichts daran.“ Sie schüttelt nur den Kopf.
„Wie sieht es aus? Bist du bereit?“, fragt sie mich.
„Wofür?“
„Ich wollte dir doch etwas zeigen. Weißt du noch?“ Und wieder zieht sie an der Zigarette und hustet. Ich seufze. Ich würde gerne noch etwas dazu sagen, aber im Moment würde das wohl nichts bringen.
„Ja, ich weiß es noch. Was ist es? Und sag jetzt bloß nicht, du wolltest mir die Zigaretten zeigen.“ Tess lacht.
„Nein. So wichtig sind sie dann auch wieder nicht.“ Sie steht auf und zieht mich mit sich.
„Wo gehen wir hin?“
„Ich möchte dir jemanden vorstellen.“
„Hast du nicht etwas von zeigen gesagt?“, frage ich verwundert nach.
„Ja, das auch. Warte ab, bis wir da sind.“ Wir laufen durch den Park. Nach zirka zehn Minuten stehen wir vor einem ziemlich heruntergekommenen Haus. „Was sagst du?“
„Willst du hier einziehen, damit du ungestört rauchen kannst?“
„Nein! Jetzt hör doch mal mit den Zigaretten auf!“
„Ich habe nicht angefangen zu rauchen, sondern du. Wirf sie weg und ich sag nichts mehr.“ Sie kneift die Augen zusammen und sieht mich einen Moment prüfend an.
„Mal sehen.“ Sie wendet sich wieder dem Haus zu. „Also, lass uns reingehen!“, fordert sie mich auf.
„Na, ich weiß nicht!“, ich begutachte das Haus noch einmal. „Ach was solls. Gehen wir rein!“
„Das ist mein Mädchen!“ Tess schlingt den Arm um meine Schultern und zieht mich mit sich ins Haus. Der Hausgang sieht genauso schmuddelig aus, wie das äußere des Hauses. Wir laufen die Treppe hoch und Tess klopft an eine der Türen. Hier wohnt wirklich jemand? Die Tür geht auf und ein Mann, der von Kopf bis Fuß tätowiert ist, lässt uns in die Wohnung. Alle meine Alarmsignale gehen los. Morgan, du darfst da auf keinen Fall reingehen! Du kommst da nicht lebendig raus! Aber Tess scheint den Mann zu kennen, also folge ich ihr in die Wohnung und schiebe meine Bedenken zur Seite. Wir laufen einen Gang entlang und landen in einem Zimmer. Ich sehe mich um.
„Na, was sagst du?“ Tess sieht mich mit strahlenden Augen an. Sie kann das doch nicht ernst meinen?
„Ähm, zu was?“, stammle ich.
„Ich lasse mich tätowieren! Jetzt sei doch nicht so verklemmt.“
„Bin ich nicht!“, sage ich verletzt. „Damit habe ich nur nicht gerechnet.“ Der Mann, der uns die Tür geöffnet hat, beschäftigt sich mit einer älteren Frau. Ich sehe genauer hin. Er sticht ihr gerade ein Tattoo, einen Namen. Die Frau sieht zu mir hoch.
„Adam“, erklärt sie mir. „Das ist mein Enkel. Er ist so süß.“ Hätte ich die Frau auf der Straße gesehen, hätte ich nie vermutet, dass sie ein Tattoo hat. Geschweige denn mehrere.
„Morgan!“, ruft Tess. „Komm schnell her! Was meinst du, soll ich mir das stechen lassen?“ Ich laufe zu ihr. Sie zeigt mit dem Finger auf ein Buch, wahrscheinlich so eine Art Katalog für Motive. Als ich bei ihr bin, sehe ich es. Ein Kreuz, wie es auf einem Grab stehen würde. Es ist auch möglich das Kreuz mit einem Namen zu versehen.
„Ich glaube, das ist keine gute Idee.“ Tess zieht ein enttäuschtes Gesicht. „Wie groß soll es denn werden? Und wo soll es hin?“
„Übers Herz“, sagt sie stolz. Ich denke darüber nach. Würde ich mir ein Tattoo für Max stechen lassen? Ja. Darüber musste ich nicht lange nachdenken. Ich nicke ihr zu.
„OK. Mach es! Die Stelle ist gut.“ Der Mann ist mit der Dame fertig. Tess zeigt ihm das Motiv und die Stelle. Er fragt noch einmal nach, ob sie wirklich sicher ist. Dann legt er los. Das Geräusch ist nicht berauschend. Ein bisschen neidisch bin ich ja schon. Ich sehe mich im Zimmer um und blättere einen der Kataloge durch. Vielleicht lass ich mir doch mal ein Tattoo stechen. Für Max. Nicht heute. Irgendwann.
„Willst du auch eins?“, holt mich Tess wieder aus meinen Träumereien.
„Hmm, ja. Allerdings muss ich mir noch überlegen, welches Motiv.“ Ich schlage den Katalog zu.
„Hier werden auch Piercings gemacht“, sie deutet auf meine Braue.
„Wirklich?“ Ich reiße begeistert die Augen auf. „Das ist ja gut zu wissen. Ich wollte schon lange noch eines.“ Tess sieht mich belustigt an.
„Wusste ich es doch, dass es dir gefällt.“ Wir verlassen das Haus und trennen uns. Sie muss nach Hause, sie hat irgendeine Familiensache. Doch bevor wir uns trennen, bekomme ich sie noch dazu, mir die Zigaretten zu geben. Gut, den Verstand hat sie noch nicht ganz verloren.
Als ich das Haus betrete, kann ich das Abendessen riechen. Ich hänge meine Jacke auf und laufe in die Küche. Mein Vater sitzt bereits am Tisch.
„Morgan“, sagt meine Mutter, die gerade den Salat auf den Tisch stellt. „Du kommst genau richtig. Wir wollen essen.“ Während des Essens herrscht eine angespannte Stimmung. Mum und Dad unterhalten sich zwar, aber ich weiß, dass sie schauspielern. Hat mein Vater ihr von seiner Affäre erzählt? Trennen sie sich und wollen es mir nach dem Essen sagen? Ich versuche mich weiter aufs Essen zu konzentrieren. Tess kommt mir wieder in den Sinn. Wo könnte ich mich wohl als nächstes piercen lassen? Die Unterlippe fand ich schon immer cool.
„So“, sagt meine Mutter mit einem zufriedenen Seufzer nach dem Essen.
„War lecker“, ich will die Teller abräumen, aber mein Vater hält mich zurück.
„Morgan, wir müssen reden.“ Er ist ziemlich ruhig. An seiner Stelle wäre ich aufgeregt. Also sind wir ihm also so egal? Meine Mutter nimmt seine Hand und ich starre verwirrt darauf. Es geht wohl nicht um seine Affäre.
„Morgan“, fängt meine Mutter an. „Ich habe mit Alice gesprochen.“
„Alice?“ Seit dem Abend als Sam verschwand, habe ich nicht mehr mit ihr gesprochen. „Was ist mit ihr?“
„Sie hat mir von dir und Sam erzählt.“ Perplex schaue ich meine Eltern an. „Du hast mich belogen!“, ihre Stimme ist so ruhig, wie mein Vater aussieht.
„Ich verstehe nicht“, bekomme ich heraus.
„Ich habe dich gefragt, ob ihr zusammen seid. Und du hast Nein gesagt! Erinnerst du dich?“ Ich nicke. Ich bin mir nicht sicher, worauf das hinausläuft.
„Mum, ich habe ihn seit zwei Wochen nicht mehr gesehen“, versuche ich ihr zu erklären. Aber sie glaubt mir nicht.
„Hast du mit ihm geschlafen?“, fragt mich plötzlich mein Vater.
„Was?“, sage ich entsetzt.
„Morgan“, fängt meine Mutter wieder an. „Ich habe dir einen Arzttermin nächste Woche gemacht. Bei meiner Gynäkologin.“ Mein Mund wird trocken. Was denken die beiden denn von mir?
„Ich … Ich hatte keinen Sex. Wieso glaubt ihr mir denn nicht? Zwischen mir uns Sam läuft nichts!“
„Darum geht es nicht mehr.“ Eigentlich sollte dieses Thema einem Vater unangenehm sein, das dachte ich zumindest. Aber keine Spur. „Es geht um Vorbeugung. Du wirst die Pille nehmen!“
„Und wenn ich nicht will!“, fauche ich ihn an. „Das ist mein Körper! Ihr könnt mich nicht dazu zwingen!“
„Wenn du nicht den Rest deines Lebens in deinem Zimmer verbringen willst, wirst du wohl oder übel machen was wir sagen.“ Was soll die ganze Bevormunderei? Noch vor vier Wochen hätte ich hier Partys schmeißen können und keinen hätte es interessiert.
„Womit wir beim nächsten Thema wären“, sagt meine Mutter. Ich lehne mich matt auf meinem Stuhl zurück und warte darauf, dass sie weiterspricht. „Die Schule.“
„Dein Lehrer hat angerufen. Deine Noten sind schlechter geworden und du machst allem Anschein nach deine Hausaufgaben nicht.“
„Das meinst du ernst?“, sage ich kopfschüttelnd zu ihm. Ich bin fassungslos. „Doch ist es“, stelle ich kalt fest.
„Ich habe mit ihm abgemacht, dass du deine Hausaufgaben von uns unterschreiben lässt und ihm vorzeigst. Genauso wie deine Tests. Und du wirst keine Schulstunde mehr verpassen.“ Ich höre ihm zu, schaue aber stur auf den Tisch. Ich kam doch nur zu spät, wenn es Mum nicht gut ging. „Und du hast zwei Wochen Hausarrest.“ Mir platzt der Kragen.
„Was?!“, schreie ich. Der Stuhl, auf dem ich gerade noch saß, kippt nach hinten als ich ruckartig aufstehe. Mein Vater sieht mich gelassen an.
„Schrei weiter und wir machen drei daraus!“
„Arschloch!“, knurre ich.
„Vier Wochen! Und jetzt geh auf dein Zimmer!“ Ich gehe in mein Zimmer und lasse die Tür mit einem lauten Knall ins Schloss fallen. In meiner Hand habe ich meine Jacke, die ich unterwegs von der Garderobe gerissen habe. Ich öffne das Fenster, hole die Zigaretten heraus, die ich Tess vorhin abgenommen habe, und zünde mir eine an.

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