Kapitel 10


„Fertig“, sagt Tyson und rollt auf seinem Stuhl ein Stück nach hinten. Hinter ihm steht Tess, die mich mit strahlenden Augen ansieht. Ich nehme den Spiegel, den sie mir hinhält und bewundere mein Gesicht. Nach den ganzen Streitereien mit meinen Eltern, wollte sie mir eine Freude machen und hat mir ein Piercing spendiert. Diesmal habe ich mich für die linke Unterlippe entschieden.
„Tess … Ich weiß echt nicht, was ich sagen soll!“, sage ich.
„Wie wäre es mit danke?“
„Danke, danke, danke.“ Ich springe auf und falle ich um den Hals. „Du bist die Beste!“
„Ich weiß“, sie zwinkert mir zu. „Und jetzt lass uns in den Park gehen. Tom wird Augen machen, wenn er dein Piercing sieht.“
„Tom?“, frage ich verwundert. Tom geht mit Tess in die Schule und wir haben ihn und seine Freunde in den letzten Wochen öfter im Park getroffen.
„Ja, er steht auf dich. Das sieht jeder der Augen im Kopf hat.“
„Wenn du meinst.“, ich klinge ziemlich gelangweilt. Ich kann mit Tom nichts anfangen. Gemerkt, dass er auf mich steht habe ich schon. Ganz von gestern bin ich dann doch nicht. Tess zieht eine Braue nach oben.
„Irgendwann sagst du mir hoffentlich um welchen Jungen es geht.“
„Was meinst du?“, frage ich.
„Du siehst keinen der süßen Jungs wirklich an. Meinst du, ich merke das nicht? Welcher Junge hat dir bloß das Herz gebrochen?“ Ich zucke mit den Schultern.
„Sollen wir gehen“, schlage ich vor um das Thema zu wechseln. Sie atmet resigniert ein und bezahlt mein Piercing. Wir gehen wie besprochen in den Park. Eigentlich sollte ich nach der Schule sofort nach Hause kommen. Da sich mittlerweile aber schon zwei Jahre auf meinem Hausarrestkonto angesammelt haben, denke ich nicht im Geringsten daran. Im Park warten Tom und seine Freunde schon auf uns. Tom sitzt auf der Rückenlehne einer Parkbank. Als er mich sieht springt er runter.
„Hey Morgan“, begrüßt er mich. Tess beachtet er gar nicht. Sie beschäftigt sich mit einem der anderen Jungs. „Wow! Du hast ein neues Piercing! Wie geil ist das denn?“
„Ja“, ich lächle ihn scheu an. Wie wird man einen Jungen los, der einen nicht interessiert?
„Guck an! Die Schwuchteln haben Ausgang bekommen!“, ruft einer der Jungs, dessen Namen ich nicht mehr weiß. Ich drehe mich um. Jeremy, Sam, Caleb und Sally sitzen auf der anderen Seite des Parks auf der Wiese.
„Ähm? Schwuchteln?“, frage ich verwundert. Haben die beiden sich geoutet? Das hätte ich in der Schule doch mitbekommen.
„Ja“, Tess steht jetzt neben mir und zeigt auf Jeremy und Sam. „Die beiden!“
„Woher wollt ihr das wissen?“ Tom lacht bei meiner Frage auf. Ich habe aber mehr das Gefühl, dass er mich auslacht.
„Er hat gesehen, wie sie herumgenkutscht haben.“ Er deutet mit dem Kopf auf den Jungen, der uns auf die vier aufmerksam gemacht hat. Tom macht einen Schritt auf mich zu und schlingt die Arme um meine Taille. In Gedanken bin ich noch mit Jeremy und Sam beschäftigt, dass ich nicht gleich reagiere. Tom deutet das falsch und versucht mich zu küssen.
„Hey!“ Ich stoße ihn weg. „Was sollte das?“
„Nach was sah es denn aus?“ Er schüttelt genervt den Kopf und geht zur Bank zurück. „Tess? Wo hast du denn die Jungfrau aufgetrieben?“ Im Rücken kann ich die Blicke meiner früheren besten Freunde spüren. Tess streicht mir beruhigend über den Arm.
„Hör nicht auf ihn“, sagt sie sanft zu mir.
„Nein, Tess. Ich habe dich gern. Ich verbringe gerne meine Zeit mit dir. Daran wird sich nichts ändern.“ Ich drehe mich um und sehe zu Caleb, der die Szene genau beobachtet. Dann suche ich Tess´ Blick. „Aber ich gehöre hier nicht hin.“ Sie sieht zu den Jungs auf der anderen Seite des Parks.
„Einer von ihnen ist es, oder? Der Junge, der dir das Herz gebrochen hat?“
„Ja“, ich nicke. „Aber ich glaube, es fängt an zu heilen.“ Sie nimmt mich in die Arme.
„Ich ruf dich heut Abend an. Dann kannst du mir ja erzählen wie es ausgegangen ist.“
„Wie gesagt. Du bist die Beste!“
„Ich weiß“, und wieder zwinkert sie mir zu, wie eine Stunde zuvor. Ich atme durch, drehe mich um und laufe auf die andere Seite des Parks. Jeremy hat sich auf dem Rasen ausgestreckt. Sally erzählt Caleb irgendetwas, aber er scheint ihr nicht richtig zu zuhören. Er und Sam sehen mir zu, wie ich auf sie zukomme. Mein Herz rast. Was soll ich denn sagen? Mich entschuldigen? Vor ihnen bleibe ich stehen. Jeremy hat mich jetzt auch entdeckt und setzt sich auf.
„Was willst du denn hier?“, faucht mich Sally an. „Verschwinde wieder zu deinen Punk-Freunden!“
„Hat aber lange gedauert bis du dich wieder zu uns traust“, sagt Caleb ohne auf seine Freundin einzugehen. „Setz dich“, fordert er. Ich sehe zu Sam, der etwas zu meinem neusten Gesichtsschmuck sagen will, lässt es aber dann doch.
„Das ist neu, oder“, fragt Jeremy neugierig. „Heute Morgen hattest du es noch nicht.“
„Nein“, meine Stimme ist beschlagen als ich spreche. „Ist knapp eine Stunde alt.“
„Wer hat es gemacht?“, kommt von Caleb.
„Ein Tätowierer. Ich habe ihn durch Tess kennengelernt.“ Ich sehe kurz über die Schulter. Tess und die Jungs sind verschwunden.
„Dein Freund ist weg“, stellt Sam fest.
„Er ist nicht mein Freund!“
„Sah aber so aus!“, beharrt er.
„Ich werde mich auch tätowieren lassen“, mischt sich Jeremy ein um die entspannte Stimmung nicht zu gefährden.
„Bist du bekloppt!“, ruft Caleb. „Nein, wirst du nicht!“
„Seit wann hast du mir was zu sagen?“ Ich sehe in die Runde und entspanne mich noch ein bisschen mehr. Wir bleiben noch eine Stunde im Park und machen uns dann auf den Heimweg. Es fühlt sich an, als wäre ich nie weggewesen. Als wäre das alles nicht passiert. Sally und Caleb verabschieden sich voneinander und ich bin mit den dreien allein.
„Kann ich euch beide etwas fragen?“ Jeremy und Sam drehen sich gleichzeitig zu mir um.
„Klar.“
„Habt ihr jemanden erzählt, dass ihr beide ein Paar seid? Das ihr schwul seid?“ Sie machen große Augen, sogar Caleb.
„Bist du verrückt?“, sagt er.
„Einer der Typen mit denen ich im Park war, hat gesehen wie ihr herumgeknutscht habt.“
„Scheiße“, entfährt es Jeremy. „Nein, wir haben es keinem gesagt.“
„Wer weiß es noch?“, fragt Sam.
„Ich weiß nicht. Ich habe es nur von ihm gehört.“ Jeremys Gesicht ist kreidebleich.
„Ganz ruhig. Kein Stress ihr beiden.“ Caleb versucht ihn zu beruhigen.
„Naja“, sagt Sam. „Irgendwann wird es sowieso herauskommen.“
„Aber nicht heute!“, ruft Jeremy.
„Nein, Jeremy. Das habe ich auch nicht gesagt. Aber ich werde mir jetzt auch keinen Stress deswegen machen. Wir machen so weiter wie bisher.“ Sam macht einen Schritt auf seinen Freund zu, hält dann aber inne. Wir sind immer noch in der Öffentlichkeit, daher kommt eine Umarmung nicht in Frage. Als Jeremy weitgehend beruhigt ist, gehen wir nach Hause. Natürlich kann ich mir erst einmal eine Predigt von meinen Eltern anhören, bin aber nicht ganz bei der Sache. Ich habe meine Freunde wieder. Meine Mutter fährt mich ab jetzt jeden Tag zur Schule und holt mich auch wieder ab. Gegenüber meinen Eltern bin ich immer noch bockig. In der Schule versuche ich, den Stoff nachzuholen, komme aber nicht mit. Mittlerweile stehe ich kurz davor nicht versetzt zu werden. Da das Schuljahresende vor der Tür steht, stehen viele Tests an. Wenn ich die entsprechenden Noten schreibe, könnte ich es noch schaffen. Caleb hat angeboten mir beim Lernen zu helfen, aber meine Eltern sind strickt dagegen. Also versuche ich mir so gut ich kann, selber zu helfen. Nach den ersten Tests habe ich auch ein gutes Gefühl. Auch einige meiner Lehrer sind der Meinung, ich könnte es noch schaffen. Die endgültige Entscheidung steht allerdings noch aus.





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