Ich komme mir gerade vor, als würde die Welt still stehen. Ich stehe hier
total aufgedonnert auf dem diesjährigen Wohltätigkeitsball des Gartenvereins
meiner Mutter. Eigentlich wollte ich heute Abend zu Hause bleiben. Ich bin erst
seit knapp einer Woche wieder zu Hause und wollte noch etwas entspannen. Die
Rechnung habe ich allerdings ohne meine Mutter und ihren Dickschädel gemacht.
Und ihr etwas abzuschlagen ist ein Ding der Unmöglichkeit. Schneller als ich
bis drei zählen konnte hatte ich eines meiner Ballkleider in der Hand und wurde
von Mama ins Bad gescheucht. Die letzten vier Jahre habe ich einer Privatschule
verbracht, daher waren solche Bälle kein Thema. Aber jetzt ist die schöne Zeit
vorbei, und ich habe das Gefühl, sie wird das schamlos ausnutzen.
„Schatz, was ist los? Du bist mit einem Mal so bleich geworden. Hast du
Probleme mit Kreislauf.“ Der Blick meiner Mutter ist voller Sorge. Sie tippt
mir leicht auf die Schulter und sieht mich fragend an und ich komme wieder zu
mir. Auf der anderen Seite des Saales steht meine Freund Drew. Ich habe ihn
während der Zeit in Ashwood, der Privatschule, kennengelernt. Sowie ich, hat
auch er seinen Abschluss gemacht und wir wollten uns nächste Woche treffen. Das
es so schnell geht habe ich nicht gedacht. Und auch nicht so. Ich komme aus
einem reichen Elternhaus, was ich ihm nie gesagt habe. Und ich meinte, er hätte
erwähnt, er hätte ein Stipendium. Ich sehe wieder zu ihm. Neben ihm steht jetzt eine
hochgewachsene Rothaarige,
die sich bei ihm eingehakt hat. Wer ist das? Schnell schaue ich wieder zu
meiner Mutter,
„Mach dir keine Sorgen. Ich hätte heute Mittag ein bisschen mehr essen
sollen“, schwindle ich.
„Das habe ich dir beim Essen schon gesagt.“
„Ja, Mama ich weiß. Wie sagt man so schön? Hinterher ist man immer
schlauer?“ Sie nickt
mir zu. Bevor sie was sagen kann, wird sie von einer älteren Dame angesprochen
und von mir abgelenkt. Meine Mutter gehört schon seit ich denken kann dem
Gartenverein an. Der Verein kümmert sich nicht nur um Gärten wie man meinen
könnte. Die Mitglieder kümmern sich vor allem um soziale Projekte.
Neue Spielplätze für Kinder oder die medizinische Versorgung der Ärmeren.
Natürlich bieten diese Bälle auch die Möglichkeit Geschäftsbeziehungen zu
pflegen. Womit mein Vater hauptsächlich beschäftigt ist. Mein Blick huscht
wieder zu Drew. Zumindest dahin wo er gerade noch stand, aber er ist
verschwunden. Meine Mutter gibt mir zu verstehen, dass sie sich um ein paar
Leute kümmern muss. Nun stehe ich alleine da. Mit den Augen suche ich nochmal den Raum nach
Drew ab,
kann ihn aber nirgendwo entdecken. Ich beschließe, mir etwas zu trinken zu
besorgen und atme erst einmal tief durch. Die Zeit bis nächste Woche kam mir
unerträglich lang.
„Ava“, höre ich hinter mir eine bekannte Stimme. Ich drehe mich um und
Greg Stevenson steht vor mir. Unsere Eltern sind schon einige Jahre befreundet.
Daher ist es fast unmöglich ihm aus dem Weg zu gehen. Er schaut mich immer an,
als erwarte er mehr von mir.
„Hallo Greg“, sage ich.
„Wieso bist du denn allein? Ich werde dir Gesellschaft leisten.“
„Nein Greg. Das musst du nicht. Du musst dich bestimmt um wichtigeres
kümmern.“ Ich hoffe inständig, dass ich ihn loswerden kann. Auch wenn meine
Chancen eher gering sind. Er ist Mitte 20 und hat es in der Firma seines Vaters
schon weit gebracht. Er macht einen Schritt auf mich zu.
„Ava? Was für ein Mann wäre ich denn, wenn ich so eine hübsche junge
Dame hier alleinstehen lassen würde?", flüstert er mir zu. Ich bekomme
sofort Gänsehaut, vor Ekel. Ich mache einen Schritt zurück in der Hoffnung
Abstand zu gewinnen.
„Ich verstehe, dass du dich auch um deine Geschäfte kümmern musst. Geh
nur!“
„Ava…“
„Bitte Greg! Ich weiß, dass es dir unter den Fingernägeln brennt. Ich
verstehe das wirklich!“
„Also, ganz sicher?“, ich nicke ihm zu. „Ok. Danke für dein
Verständnis.“ Jetzt kommt er noch näher und küsst mich auf die Schläfe. Ganz
perplex bleibe ich stehen. Er nickt mir zum Abschied noch einmal zu. Es dauert
einen Moment bis ich meine Gesichtszüge wieder im Griff habe. Das war alles
andere als angenehm. Ich drehe
mich um, um mir endlich etwas zu trinken zu holen. Drew
steht knapp fünf Meter von mir entfernt. Seine grünen Augen, die mir vertrauter sind
als meine eigenen, durchbohren mich förmlich. Er will etwas sagen, macht
Anstalten auf mich zu zukommen, wird aber von einer älteren Frau
zurückgehalten. Ich kann ihr Gesicht nicht sehen, es könnte seine Mutter sein.
Drew hat mir erzählt, dass er nach ihr kommt. Die junge Rothaarige
ist jedenfalls verschwunden. Seine Mutter zieht in ihn in die Mitte des Saales und stellt ihn
ein paar Männern vor, von denen ich weiß, dass sie sehr einflussreich sind. Ich
kann ihn nicht aus den Augen lassen. Er ist fast der Größte im Raum und in dem
schwarzen Smoking mit Fliege, sieht er unglaublich gut aus.
„Ava, starr ihn nicht so offen an!“ Mein Vater reist mich aus meinen
Gedanken und holt mich in die Realität zurück.
„Papa, musst du dich so an mich ran schleichen?“
„Ich habe mich nicht an dich herangeschlichen. Du warst nur so vertieft
damit den McKyle-Jungen anzustarren, dass du mich nicht bemerkt hast.“ Mit
seinem Sektglas deutet er in Drews Richtung, was mich irritiert.
„Wen?“, frage ich irritiert.
„Die McKyles stehen da drüben! Da hast du doch hingesehen. Ich verstehe
dich ja. Aus dem Jungen ist ein gutaussehender Mann geworden. Aber bleib weg
von ihm. Diese Familie macht nur Ärger.“ Ich schaue wieder zu Drew, der meinen
Blick erwidert. McKyle? Mir wird ganz flau im Magen. Meine Familie und die
McKyles sind schon seit Jahrzehnten zerstritten. Warum weiß ich nicht. Hat mich
auch nie sonderlich interessiert. Die blonde Frau zieht ihn zu sich hinunter.
Er sieht sie nicht an, lässt mich nicht aus den Augen. Sie sagt etwas zu ihm,
was ihm nicht zu gefallen scheint. Jetzt sieht auch sie zu mir herüber. Sie ist
ebenso wenig begeistert davon, in welche Richtung er sieht, wie mein Vater. Drew
kann man ansehen, dass es ihm gerade genauso geht, wie mir. Jemand packt mich
am Oberarm und dreht mich zu herum. Greg funkelt mich böse an. Wo kommt der
denn so schnell her? In meinem Kopf herrscht das totale Chaos. Ich entreiße
Greg meinen Arm, fahre vorsichtig darüber. Das gibt bestimmt einen blauen
Fleck.
„Hör auf diesen Andrew McKyle anzugaffen! Die Leute schauen ja schon.
Benimm dich!“ Die letzten beiden Worte zischt er mir zu. Seit wann denkt, er
könnte mir Befehle erteilen? Habe ich etwas nicht mitbekommen. Erst der Kuss
und jetzt das. Er sieht über meinen Kopf hinweg und sein Blick wird eiskalt.
Ich muss mich nicht umdrehen. Ich weiß wer hinter mir steht.
„Ist alles in Ordnung mit dir?“ Es ist erst eine Woche her, aber als ich
seine Stimme höre, merke ich wie sehr er mit gefehlt hat. Die Stimmung ist
angespannt als ich mich umdrehe und zu ihm nach oben sehe.
„Hey“, sage ich leise.
„Hey“, antwortet er. Sein Mund verzieht sich und er grinst mich frech
an. „Ich glaube, wir müssen uns unterhalten.“
„Ja, das glaube ich auch.“ Er sieht zu Greg, der sich nicht traut etwas
zu sagen. Wir gehen zur Terrassentür. Ich kann spüren, wie uns alle hinterher
schauen. Auf der Terrasse angekommen atme ich erst einmal tief durch. Dann
drehe ich mich zu ihm herum.
„Dein Nachname ist nicht Jones, oder?“, frage ich.
„Nein. Und deiner wohl auch nicht York!“ Ich schüttle den Kopf.
„Meine Eltern hatten Angst vor einer möglichen Entführung, daher die
Namensänderung. Ich schätze bei dir ist es der gleiche Grund gewesen.“ Als
Antwort bekomme ich ein Nicken. Seine Hände sind tief in den Taschen vergraben.
Mit herabhängenden Schultern steht er vor mir. Ich sehe ihm an, dass es in
seinem Kopf rattert. „Ich war der Meinung, du hättest ein Stipendium?“, frage
ich.
„Nein, hatte ich nicht.“ Ohne großartig darüber nachzudenken, gehe ich
auf ihn zu, schlinge meine Arme um seine Taille und lege meinen Kopf auf seine
Brust. Nach einer gefühlten Ewigkeit hebe ich meinen Kopf, wir schauen uns tief
in die Augen.
„Und was machen wir jetzt?“, unterbreche ich unser Schweigen.
„Mir ist ehrlich gesagt, egal was die Leute denken.“ Drew legt seine
Stirn auf meine. „Meine Mutter war nicht gerade begeistert.“ Ich muss lachen.
„Ja, mein Vater…“, versuche ich zu sagen, komme aber nicht weit.
„Wer war dieser Kerl, der dich am Arm gepackt hat? Irgendwie kommt er
mir bekannt vor.“ Sein Blick wird erst. Ich kenne diesen Blick. Eifersucht.
„Greg Stevenson…“
„Stevenson!“, er lässt mich wieder nicht ausreden. „So sieht dieser
Idiot also aus!“
„Du kennst ihn?“, will ich wissen.
„Allerdings. Also gesehen habe ich ihn bisher noch nicht. Aber das, was
ich von ihm gehört habe reicht mir. Du hältst dich von ihm fern. Hast du mich
verstanden?!“ Ich lasse ihn los und gehe zwei Schritte rückwärts. „Ava, ich
meine das ernst! Du heißt doch Ava?“ Ich fange an wütend zu werden. Er weiß
genau, dass ich es hasse, wenn ich herumkommandiert werde. Erst Greg und jetzt
er.
„In gewisser Weise.“
„Was heißt denn in `gewisser Weise´?“ Die Stimmung zwischen uns beiden
ändert sich, wird angespannt. Wir sind nicht mehr auf der Schule. Das Leben
außerhalb sieht anders aus. „Du solltest wieder zu der Rothaarigen zurückgehen.
Sie vermisst dich bestimmt schon.“ Ich versuche an ihm vorbei zu kommen, aber
er hält mich auf.
„Wir müssen darüber reden, wie es weiter geht“, fleht er mich an. Aber
ich will nur noch weg.
„Ich muss nachdenken Drew. Das kann ich nicht, wenn du da bist.“ Er ist
verletzt. „Bitte lass mich gehen“, sage ich leise. Er kämpft mit sich, lässt
mich aber gehen.
Im Ballsaal zurück, gehe ich auf meine Großeltern und Eltern zu.
„Ava, was sollte das!“ Mein Großvater ist stinksauer. „Ich will nicht,
dass du dich mit diesen Leuten abgibst! Hast du mich verstanden?“ Mit bösen
Augen funkle ich ihn an. Anscheinend meinen heute alle, sie können mich
herumkommandieren. Ich habe meinen freien Willen wohl an meinem 18. Geburtstag
abgegeben.
„Wir waren zusammen in Ashwood“, versuche ich zu erklären. „Ich habe
Kopfschmerzen und würde gerne nach Hause fahren.“ Meine Mutter sieht mich
mitfühlend an.
„Klar Schatz, geh nur. Sag Adam, er soll dich zu Hause absetzen und uns
später abholen.“ Ich verabschiede mich von meiner Familie und mache mich auf
den Weg zu unserer Limousine. Ich hoffe, weder auf Drew noch auf Greg zu
treffen. Warum wurde Drew vorhin so sauer als ich Greg erwähnt habe? Ich finde
Greg nicht gerade sympathisch und verbringe nicht freiwillig meine Zeit mit
ihm. Aber das ist meine Angelegenheit. Ich lasse mir keine Vorschriften machen,
egal von wem. Adam hält mir die Tür auf und ich steige in den Wagen.
Das erste Mal habe ich Drew an unserem ersten Schultag in Ashwood
gesehen. Anfangs sind wir uns aus dem Weg gegangen. Nach drei Monaten haben wir
uns das erste Mal unterhalten. Wir haben gemerkt, dass wir viel gemeinsam
hatten. An meinem 15. Geburtstag hat er mich zum ersten Mal geküsst. Seitdem
sind wir ein Paar. Er fehlt mir. Ich hätte nicht gehen sollen. Wir hätten uns
unterhalten sollen. Stattdessen bin ich davongelaufen wie ein kleines Mädchen.
Die Autotür geht wieder auf. Ich habe gar nicht mitbekommen, dass wir schon da
sind, so sehr war ich mit meinen Gedanken beschäftigt. Ich steige aus und nicke
Adam dankbar zu.
„Ich wünsche ihnen eine gute Nacht, Miss Porter.“
„Wünsche ich ihnen später auch Adam.“ Ich betrete unser Haus, obwohl
Haus eine Untertreibung ist. Es geht mehr in Richtung Villa. Im unteren
Stockwerk sind das Wohn-, das Esszimmer, die Küche und das Arbeitszimmer von
meinem Vater. Im oberen Geschoss sind die Schlaf- und Gästezimmer. Ich gehe
direkt in mein Zimmer und lasse mich rücklings auf mein Bett fallen. Mein Blick
bleibt an einem Punkt an der Decke hängen. Dann piept mein Handy. Schweren
Herzens richte ich mich auf und nehme es von meinem Nachtisch. Mein Herz macht
einen Sprung als ich auf mein Handy sehe. Eine Nachricht von Drew.
Ich vermisse
dich.
Ich antworte ihm sofort.
Ich
dich auch.
Mein Handy bleibt still. Es kommt nichts mehr. Ich stehe auf und gehe in
mein Badezimmer um mein Kleid auszuziehen. In Unterwäsche stehe ich vor dem
Spiegel als mein Handy klingelt. Ein Anruf! So schnell ich kann laufe ich in
mein Zimmer zurück. Vor lauter Aufregung schaue ich nicht auf das Display.
„Hallo?“, melde ich mich aufgeregt.
„Hallo Ava.“ Greg. Meine Stimmung geht natürlich sofort in den Keller.
„Oh, Greg. Was gibt es?“
„Du warst so schnell verschwunden. Ich mache mir Sorgen. Geht es dir
gut?“
„Ja, ich habe nur Kopfschmerzen. Du hättest nicht extra anrufen müssen.“
„Ach Ava“, ich kann ihn seufzen hören. „Ich wünschte, du hättest mir
Bescheid gegeben. Ich wollte dich heute Abend eigentlich nach Hause fahren.“
„Oh, das wusste ich nicht.“ Dem Himmel sei Dank bin ich früher gegangen.
Wer weiß, was sonst noch passiert wäre. „Hör mal, ich werde Schluss machen. Ich
bin müde und möchte nur noch ins Bett.“
„Ja, Ava. Geh nur und ruhe dich aus. Ich melde mich wieder bei dir, ich
würde gerne mit dir essen gehen.“
„Gute Nacht Greg.“ Bevor er noch ein Wort sagen kann, beende ich das
Gespräch. Mit ihm essen gehen? Nie im Leben! Woher hat der Idiot eigentlich
meine Nummer? Bestimmt von meiner Mutter oder Großmutter. Ich schnappe mir
meine Schlafklamotten und will wieder ins Bad zurück. Ich schlafe in einem von
Drews T-Shirts. Eigentlich habe ich es ihm zu seinem 16. Geburtstag geschenkt.
Seit einem halben Jahr ist es in meinem Besitz. Kurz bevor wir unseren
Abschluss gemacht haben, habe ich ihn gezwungen, eine Woche darin zu schlafen.
Ich sehe ihn vor mir, wie er die Augenbrauen nach oben gezogen hat, als ich ihn
darum gebeten habe. Eine Woche später bekam ich es in einer Tüte zurück. Als
ich es auspacken wollte, hielt er mich davon ab. Sein Duft sollte in der Tüte
besser erhalten bleiben.
Gerade als ich mir das Shirt über den Kopf ziehe klingelt wieder mein
Handy. Ich gehe nicht dran. Das wird wieder Greg sein. Diesmal will er mir
bestimmt eine Gute-Nacht-Geschichte vorlesen. Bei dem Gedanken muss ich
kichern. Beim Zähneputzen piept mein Handy schon wieder. Kann der Kerl keine
Ruhe geben. Über Nacht werde ich es ausschalten, sonst bekomme ich überhaupt
keinen Schlaf. Langsam schleppe ich mich Richtung Bett. Meine Neugierde siegt
und ich werfe doch einen Blick auf das Display um nachzusehen was Greg wollte.
Nein! Scheiße! Der Anruf war von Drew, genauso wie die Nachricht, ich öffne
sie.
Warum
willst du nicht mit mir sprechen?
Ich drücke sofort auf den Anruf-Knopf um ihn zurückzurufen. Sein Handy
ist aus.
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